Züge und Lebern
Manche Dinge nimmt man ja einfach hin, hält sie für grundsätzlich, für überall gültige Naturgesetze. Bis jemand von außen drauf schaut und sich wundert. Oder zweifeln Sie daran, dass ein kalter Luftzug an Stirn und Nacken tödliche Erkältungen hervorruft? Ich jedenfalls nicht. Dass er das offenbar nur bei Deutschen tut, ist allerdings schon hinterhältig von ihm, dem Zug (die Alliierten hätten ihn damals vielleicht zu Kriegszwecken einsetzen sollen). Und damit man überhaupt erfährt, dass es sich um ein volksspezifisches Krankheitsbild handelt, muss erst ein Amerikaner kommen.

Dann fährt man in ein anderes Land, lernt die Leute kennen, verbringt einige Sommer bei ihnen und wundert sich selbst: »Ho mal di fegato!« — wie, Leberschmerzen? Weil du gerade einen Berg Wurst gegessen hast? Ich dachte bislang, die Leber schmerzt höchstens Boxern und Trinkern. Ein anderes Mal geht es vielleicht um Fast-Food und jemand sagt »ti rovina il fegato«, dass das Zeug die Leber ruiniere. Und so häuft sich das, bis man begreift: Was der deutsche Nacken im Luftzug, ist die italienische Leber im Kampf gegen deftiges Essen: Eine kulturspezifische Vorstellung, wie der Körper funktioniert und was ihm nicht gut tut.

Ich finde das spannend. Kennen Sie mehr solche Beispiele?

[giardino, Freitag, 28. November 2008, 00:18] 1452



die.tine, Freitag, 28. November 2008, 14:37   (Permalink )
Es gibt ja auch historische Krankheiten. Die Eisenbahnerkrankheit zum Beispiel. Hat heute keiner mehr. Dafür haben wir Tennisellenbogen und Mausarme.

giardino, Dienstag, 2. Dezember 2008, 22:59   (Permalink )
Wobei diese Erscheinungen zwar kulturell bedingt, aber doch tatsächliche Beschwerden sind, nicht?

die.tine, Dienstag, 9. Dezember 2008, 18:27   (Permalink )
hm, die Eisenbahnerkrankheit wohl eher nicht, da ging es doch darum, dass die Menschen von den hohen Geschwindigkeiten krank werden.
Wobei es sein kann, dass die ganze Eisenbahnerkrankheit eine Erfindung ist. Vielleicht der Anti-Eisenbahn-Lobby?

Und manchmal gehts um diffuses Unwohlsein, das in verschiedenen Sprachen in andere Krankheiten übersetzt werden.

Im Buch "Frau Antje und Herr Mustermann", ein Buch über Deutsche und Holländer gings auch um solch ähnliche Krankheiten. Wenn ich mich recht erinnere, haben wir Deutschen es mit dem Kreislauf udn die Niederländer sind dann "overspannt", also überreizt.

giardino, Mittwoch, 10. Dezember 2008, 12:06   (Permalink )
Ah, der Kreislauf, natürlich! Und Überreizung. Das ist genau soetwas, wie ich suchte, danke!

kid37, Freitag, 28. November 2008, 15:26   (Permalink )
In den USA häufen sich bei Frauen Fälle der mysteriösen Nasenkrankheit. Lässt sich derzeit nur operativ beheben, so die gängige Diagnose und therapeutische Empfehlung.

p.m., Sonntag, 30. November 2008, 12:18   (Permalink )
Erwachsene Menschen, die sich bei Schmuddelwetter Wattebäusche in die Ohren stecken, wenn sie ins Freie gehen. Um Erkältungskrankheiten vorzubeugen.
Denen hilft nach meinem Empfinden auch nur der Placeboeffekt. Ich war erstmal sprachlos, als man mir erklärte wofür das gemacht wird, so quasi als Ergänzung zu Schal und Mütze.

giardino, Dienstag, 2. Dezember 2008, 23:01   (Permalink )
Erinnert ein wenig an Menschen, die bei Gewitter das Fenster schließen, weil doch sonst der Blitz in die Wohnung eindringt. :)

@Kid: Tritt die Krankheit nicht auch gehäuft mit postpubertärem Brustwachstum auf? ;)

etosha, Montag, 1. Dezember 2008, 09:21   (Permalink )
Spontan fällt mir dazu ein, dass ärgerliche Erlebnisse den (Ost-)Österreicher buchstäblich "magerln". "Des magerlt mi jetz scho seit ana Wochn."

giardino, Dienstag, 2. Dezember 2008, 23:06   (Permalink )
Ist das so etwas wie auf den Magen schlagen? Oder eher in der Bedeutung, dass der Betroffene abmagert, das Erlebnis an ihm zehrt?

etosha, Mittwoch, 3. Dezember 2008, 22:53   (Permalink )
Es ist ein bisschen anders als 'auf den Magen schlagen', aber weit weg vom Abmagern. Es ist eher so, dass das Geschehene an dir nagt, aber eben innen an der Magenschleimhaut. Ist beim Österreicher aber selten mit tatsächlichem Appetitverlust verbunden. ;)

mark793, Montag, 1. Dezember 2008, 10:23   (Permalink )
In der Türkei etwa, so las ich kürzlich, kenne man die Depression nicht als Krankheit.

Über das Ding mit der Zugluft wundere ich mich aber auch schon seit Jahren. Was da genau welche Krankheiten verursachen soll und wie das vor sich geht, ist mir (obwohl hier in .de aufgewachsen) immer schleierhaft geblieben.

Das Ding mit der Leber scheint mir gar nicht so weit hergeholt, ich meine mich vom Biologieunterricht her noch daran zu erinnern, dass die Leber auch beim Abbau von Fett in der Nahrung involviert ist. Aber Schmerzen sollten damit im Normalfall eigentlich nicht verbunden sein.

giardino, Dienstag, 2. Dezember 2008, 23:09   (Permalink )
Das ist das Schöne daran; die Mechanismen sind ja nicht ganz von der Hand zu weisen. Sie haben immer noch einen plausiblen, wahren Kern. Der dann nur irgendwie maßlos übertrieben wurde.

percanta, Freitag, 18. Juni 2010, 13:04   (Permalink )
Dass man von kalten Füßen krank wird ist wohl auch so ein Fall - der schöne südliche Ausdruck "sich verkühlen" geht ja ganz klar in die Richtung. Tatsächlich besteht wohl ein Zusammenhang, aber umgekehrt: Wenn man schon krank geworden ist - sich er*kältet* hat, woher auch immer man den Infekt hatte - und *vor* eindeutigen Symptomen wie Schnupfen, Husten, Hals- und sonstwasweh, werden oft die Füße kalt. Also erkältet man sich von kalten Füßen.

giardino, Freitag, 18. Juni 2010, 18:14   (Permalink )
Die Welt ist kompliziert. Dann bekommt man am Ende von einer laufenden Nase auch gar keinen Schnupfen?