Duisburg
Mein Gott, wie furchtbar. #loveparade

Aber was will man von einer Stadt erwarten, die ihren Minderwertigkeitskomplex regelmäßig durch Größenwahn ausgleichen muss. #hass #duisburg
Das war meine erste Reaktion auf Twitter, als ich dort am Samstagnachmittag von der Katastrophe bei der Loveparade las. Und auch meine letzten Tweets zum Thema, weil ich in dem folgenden Durcheinander von Links auf Augenzeugenvideos, Presseberichte, Blogartikel und dem gegenseitigen Runtermachen aller, die anders als man selbst auf das Ereignis reagierten, lieber stumm geblieben bin. Und auch lieber bleibe, weil es über Banalitäten hinaus nur wenig gibt, das man auf das Grauen antworten kann, das an dieser Rampe geschehen ist. Ich wünsche denen, die dort waren oder Menschen dort verloren haben, allen erdenklichen Trost.

Aber diese Stadt, sie macht mich maßlos wütend. Diese verdammte Stadt mit ihrem verdammten Minderwertigkeitskomplex. Der seit Jahrzehnten verhindert, dass man Leute an ihre Spitze wählt, die auch Probleme ansprechen dürfen. Der seit Jahrzehnten verhindert, dass Leute mit Augenmaß ans Ruder kommen, die ein Gespür dafür haben, was die Stadt ist und was nicht, wohin sie sich entwickeln kann. Der seit Jahrzehnten jeden Größenwahn beflügelt, wenn nur irgendwer kommt und den Duisburgern das Gefühl gibt, ihre Stadt könnte mit diesem oder jenem überregional Eindruck machen, groß rauskommen.

Für mich unmittelbar sichtbar ging es los in den 80ern, als man beschloss, die Straßenbahn zu verbuddeln. Kaum zwei Kilometer unterirdische Strecke, und zwar unter der Königstraße, einer der breitesten Hauptstraßen die ich in Deutschland kenne und die schon weitgehend Fußgängerzone (!) war. Dort, wo der Straßenverkehr wieder beginnt, kommt die Bahn konsequenterweise wieder zum Vorschein. Fast ein Jahrzehnt lang wurden so sinnlos Abermillionen verbaut, währenddessen Häuser Risse bekamen, die Mieten nichtsdestoweniger stiegen und durch die Dauerbaustelle nicht wenige Traditionsgeschäfte letztlich schließen mussten. Dafür reihen sich dort heute Handyladen an 1-Euro-Laden an Kettenfiliale wie anderswo nur in prekären Randlagen. Aber Hauptsache Duisburg hat eine U-Bahn, so wie die großen Städte.

Dann das Einkaufspassagenroulette. Erst baute man Anfang der 80er das Averdunkcenter. Irgendwann ließen Ladenniveau und Charme zu wünschen übrig. Dann baute man einen Kilometer weiter am anderen Ende der Königstraße eine weitere Passage, die Galeria, mit dem Effekt, dass das Averdunkcenter endgültig den Bach runter ging.

Als nächstes wurde die — sicher sanierungsbedürftige, aber architektonisch schöne — Mercatorhalle als Mehrzweck- Konzert- und Veranstaltungshalle dem Boden gleichgemacht und an der Stelle ein furchtbares Gebäude hingestellt. Es enthält irgendwo im Innern wieder eine "Mercatorhalle", aber jetzt vor allem auch ein Automatencasino. Ein Daddelcasino für Auswärtige mit Geld, das modernste Deutschlands, mitten in Duisburg. Dazu gehört mit dem sogenannten CityPalais eine, natürlich, Einkaufspassage.

Doch der Größenwahn ging weiter, man wollte (auf dem Gelände, das jetzt zu trauriger Berühmtheit gelangt ist) das Multicasa bauen, eine Einkaufsstadt in der Stadt, das bis dahin größte Einkaufszentrum ganz Deutschlands mit knapp der Ladenfläche aller Geschäfte der Stadtmitte zusammen. Und, das ist kein Scherz, für die Überbrückung der Entfernung zum Rest der Innenstadt wurde überlegt, eine Seilbahn zu bauen.

Gottseidank schrak man letztlich vor diesem Monster zurück, aber man baute stattdessen das Forum, ein immer noch gigantisches Zentrum an der Königstraße, zusammen mit den Nachbarstädten immer im Glauben, dass Kaufkraft sich vermehre, wenn man nur noch mehr Verkaufsfläche anbiete. Unterdessen geht die Passage Galeria erwartbar den Bach runter, weitere frühere Einkaufsstraßen im Zentrum verwahrlosen.

Hab ich was vergessen? Ach ja, das Musical »Les Miserables« für das man ein eigenes Theater baute, weil man dachte, Bochum mit »Starlight Express« — Mensch, sowas können wir auch! Längst pleite gegangen. Oder aktuell die Idee, sich von einem Konsortium einen kompletten Stadtteil im Südosten bauen zu lassen, wo ein anderes riesiges Güterbahnhofgelände brach liegt. Oder wie lange die Stadtoberen jahrelang im Klüngel mit den Stahlkonzernen verhindert hatten, dass sich neue Industrie und Firmen ansiedeln können, um dann später stolz jede Mini-Hightechfirma mit 20 Akademikern, die irgendwie den Weg nach Duisburg gefunden hatten, als Beweis für die Zukunftsfähigkeit der Stadt zu feiern, während allein in Rheinhausen Tausende Arbeiter von Krupp entlassen wurden.

Ich glaube, das einzige einigermaßen nachhaltig gelungene stadtplanerische Projekt der letzten Jahre war der Innenhafenausbau. Wobei auch der am weitaus größten Teil der Stadtbevölkerung vorbeiging. Aber dafür hat »der Stararchitekt Sir Norman Foster« ihn entworfen. Für Duisburg! Ist das eine Weltstadt, was?

Ich bin so wütend auf diese Stadt, auch noch 19 Jahre, nachdem ich ihr den Rücken gekehrt habe. Dass jetzt jeder offen wahrnimmt, wie krank ihre Großsucht war, ist keine Genugtuung, denn 20 Menschen sind tot, Hunderte verletzt und traumatisiert. Ich kann nur hoffen, dass die Duisburger begreifen, dass der erbärmliche so starrsinnig agierende Oberbürgermeister nicht ohne Grund ihr Stadtoberhaupt wurde, sondern weil er ihnen das erzählt hat, was sie hören wollten. Und dass sie sich darauf besinnen, dass in Duisburg jenseits von Konsumtempeln, Stararchitekten und Mega-Events etwas anderes steckt, worauf sie stolz sein und einen Ruf bauen können. Etwas viel Bescheideneres und Bodenständigeres, das mit Freundlichkeit zu tun hat, mit Kreativität, friedlichem Miteinander und damit, sich auch in schwierigen Verhältnissen nicht unterkriegen zu lassen.

[giardino, Mittwoch, 28. Juli 2010, 01:11] 2971



pappnase, Mittwoch, 28. Juli 2010, 01:43   (Permalink )
duisburg rockt.

der zoo ist einzigartig in der region, die halden, der rhein und der enorme hafen und eine tiefgründige geschichte und eine wertschöpfende wirtschaft.
ein schwarzes kapitel hat jede metropole.

und danke für ihre beschreibung.

gorillaschnitzel, Mittwoch, 28. Juli 2010, 01:55   (Permalink )
Danke für Ihre ("Insider"+) Zusammenfassung. Ihr Fazit in der Stadtoberen Ohr (auch wenn ich befürchte, dass dem nicht so sein wird)

jammernich, Mittwoch, 28. Juli 2010, 10:17   (Permalink )
Ja, Herr giardino, so geht es vermutlich vielen Städten, die eine größere Metropole neben sich haben und mithalten wollen. Die eine merkt früher, dass das sinnlos ist und man den eigenen Charme in den Mittelpunkt stellen sollte, die andere erst später.
Bitter, dass es zu einer solchen Katastrophe führen musste. Ich ziehe im Nachhinein den Hut vor dem Polizeipräsidenten, der seinen Job verlor, wel er aussprach, was passieren könne. Unfassbar, dass man diese Warnung bestraft und ignoriert hat, statt daraus Schlüsse zu ziehen.

giardino, Mittwoch, 28. Juli 2010, 12:27   (Permalink )
Ich hab das nie so wahrgenommen, dass sich Duisburg so sehr vergleichen oder in Konkurrenz zu anderen Städten fühlen würde (zu Düsseldorf schon gar nicht). Da ist eher ein für sich stehender ständiger Hunger nach Bestätigung von außen, egal woher und wofür. Entsprechend zeichnet sich jetzt schon ab, dass viele Duisburger den Rücktritt des OB gar nicht so sehr fordern, weil er Prestige über Sicherheit gestellt hätte, sondern weil er mit seinem Starrsinn nach der Katastrophe dem Image Duisburgs schade.

Ja, es ist unglaublich, wie vielfältig und frühzeitig die Warnungen warnen und wieviel Energie aufgewendet wurde, um das alles beiseite zu wischen.

giardino, Mittwoch, 28. Juli 2010, 12:40   (Permalink )
Einen lesenswerten Beitrag mit ähnlichem Tenor und Gründen, warum man die Stadt mögen kann, gibt es bei Exportabel. Und die Ruhrbarone stellen die Duisburger Loveparade in den Kontext des Ruhrgebietsmarketings.

erasmus von meppen, Mittwoch, 28. Juli 2010, 13:01   (Permalink )
Ich glaube, Sir Norman Foster hat Dusiburg als seinen persönlichen Altglascontainer verwendet. Auf dem Weg zur Uni musste man jedenfalls immer aufpassen, wenn man an seinen Gebäuden vorbeiging, denn die Glasbauteile machten sich gerne selbständig.
In Duisburg kann ich übrigens das Opernhaus empfehlen. Die Akustik ist dort sehr viel besser als in Düsseldorf. Man muss allerdings damit rechnen, dass das Publikum bei einer "modernen" Oper wie Strauss' "Salomé" (1905) empört den Saal verlässt (selber erlebt!). Aber das spricht ja eher für einen Besuch als dagegen.

mark793, Mittwoch, 28. Juli 2010, 13:20   (Permalink )
Der Zusammenhang mit dem Ruhrpott-Reichsparteitag-Kulturhauptstadt-Marketing-Gekrampfe ist durchaus da. Da findet das was Sie, Herr Giardino, so kenntnisreich aus Duisburger Binnensicht berichten, seine Entsprechung auf der übergeordneten Regional-Ebene.

Ich sympathisiere ja nun wirklich sehr stark mit dem Pott, gleichwohl muss ich gestehen, dass mir das überambitionierte metropolregionale Getue schon im Vorfeld der Kulturhauptstadt 2010 zunehmend auf die Gonaden ging. Ich halte es für einen Irrweg zu glauben, dem Selbstbewusstsein der vom Strukturwandel gebeutelten Gegend müsste vor allem mit gigantomanischen Großprojekten und Mega-Events auf die Sprünge geholfen werden. Da zog ein Herr Gorny jahrelang durch die Lande und faselte was von Leuchtturmprojekten und deren Strahlkraft. Aber Strukturwandel erfordert halt schon bisschen mehr als ein paar bunte Neonröhren an alten Industrieanlagen und die längste Bierbank der Welt.

giardino, Mittwoch, 28. Juli 2010, 19:37   (Permalink )
@erasmus: Hihi. Und das Opernhaus ist wirklich schön (auch wenn ich selbst bislang nur Theater darin gesehen habe); den Spruch am Giebel kann ich heute noch auswendig.

@mark793: Ich fand diese "Metropolregion" immer schon merkwürdig — als Süd-Duisburger fühlte ich mich dem Niederrhein immer genauso zugehörig wie dem Ruhrgebiet. Und bei der Top-Down-Kultur bin ich ganz bei Ihnen.

mark793, Donnerstag, 29. Juli 2010, 00:08   (Permalink )
Grad gesehen, dass diese Megalomanie auch anderen aufstößt.

giardino, Donnerstag, 29. Juli 2010, 00:26   (Permalink )
Guter Beitrag, danke für den Link! Aber: hui, selten so polarisierte Kommentare gelesen.

dings, Mittwoch, 28. Juli 2010, 13:27   (Permalink )
Sie kommen auch aus Duisburg?! Wie ich.
Man erkennt in dem Text, wie sehr sie sich wünschen, dass Duisburg sich gut entwickeln würde, und in der Vergangenheit Fehler vermieden hätte. Irgendwie hängt man an den alten ungeliebten Wurzeln.

giardino, Mittwoch, 28. Juli 2010, 19:48   (Permalink )
Genau so ist es. Ich hab mich auch gewundert, woher plötzlich diese ganze Wut kommt, wo man denkt, man hätte mit etwas seit langem abgeschlossen.

(Ich glaube, wir hatten das mit der gemeinsamen Herkunft schon mal vor Jahren auf MKS oder so festgestellt... Homberg?)

midori, Mittwoch, 28. Juli 2010, 18:50   (Permalink )
Ich habe versucht, etwas dazu zu schreiben und mich dabei in meinen eigenen Gedanken verheddert.

Aber schieben Sie es nicht auf "die Stadt" als abstraktes Konstrukt, denn nicht alle ihre Bewohner sind gleich und nicht alle ihre Bewohner haben sich schuldig gemacht. Es sind ja eher die Repräsentanten und Funktionäre, die Gernegroß und Möchtegerns, die Sie meinen....

giardino, Mittwoch, 28. Juli 2010, 19:26   (Permalink )
Doch, ich schiebe es genau auf die Stadt als abstraktes Konstrukt. Denn auf dieser Ebene gibt es meines Erachtens Charakterzüge und Haltungen, die nach innen und außen wirken, die losgelöst von Individuen sind. Ein Summenphänomen, sozusagen.
Das ist für mich etwas anderes als zu behaupten, die einzelnen Bewohner seien untereinander alle gleich und genau so. (Herrje, wo hab ich eigentlich meinen Gödel-Escher-Bach? Da gab's doch was mit Reduktionismus vs. Holismus... ;-)

Die Repräsentanten und Funktionäre, die die Politik verantworten, die ich oben beschrieben habe, das waren so viele über so lange Zeit aus unterschiedlichen politischen Lagern, und sie fanden immer so viel Zustimmung in der Bevölkerung (bzw. so wenig Widerspruch), dass ich mich einfach schwer tue, den notorischen Hunger nach Prestigeprojekten nur auf eine verdorbene politische Klasse zu schieben.

(Den Begriff der Schuld mag ich nicht verwenden, darüber werden andere befinden.)

lorilo, Donnerstag, 29. Juli 2010, 00:46   (Permalink )
Die Zahlen ändern sich ja täglich stündlich und von Medium zu Medium - anyway - ich las, dass knapp 70% der Duisburger gegen die Loveparade in ihrer Stadt waren. Die Gründe dagegen gewesen zu sein, sind sicher vielfältig - ich denke aber, dass bei etlichen auch durchaus der Gedanke mitschwang, dass die etwas größere Stadt Essen dieses Event für sich abgesagt hat.
Ich würde - als absolut Außenstehender, der nur Pottaffinität besitzt - den Menschen nur bedingt eine Mitschuld einräumen.
Wenn diese jetzt aber nicht mit dafür sorgen, dass dieser unsägliche OB verschwindet und alle Akten auf den Tisch kommen, alle Warnungen, Gutachten etc. - dann fehlt mir jedes Verständnis.

giardino, Freitag, 30. Juli 2010, 16:35   (Permalink )
Wie ich schon schrieb, es geht mir nicht um Schuldzuweisung, erst recht nicht persönliche, sondern darum, wie der Boden aussieht, auf dem sich so eine kollektive, am Ende katastrophale Selbstüberschätzung überhaupt erst entwickeln konnte.

giardino, Freitag, 30. Juli 2010, 16:33   (Permalink )
Es tut mir inzwischen leid, Hrn. Sauerland in meiner Wut auf die Duisburger Verhältnisse (und auch seinen Starrsinn) erbärmlich genannt zu haben.

Die ausgerufene Hetzjagd auf seine Person, das Sichimrechtfühlen der Masse und ihr Wunsch, seine Existenz zu vernichten (symbolisiert mit dem Galgen auf der Demo gestern) widert mich an. Auch wenn er neben dem — halt deutlich sympathischer auftretenden — Veranstalter im Moment der einzig greifbare Verantwortungsträger ist, auch wenn er sich derzeit starrsinnig an seinen Stuhl klammert, meine Güte, er wird ohnehin demnächst zurücktreten müssen, weil er inzwischen jeden politischen Rückhalt verloren haben dürfte. (Und das Projekt war beileibe auch nicht nur sein Steckenpferd, wie der oben verlinkte Beitrag bei den Ruhrbaronen darlegt.) Dazu muss man ihn nicht auch noch in den Selbstmord treiben.

giardino, Freitag, 30. Juli 2010, 17:02   (Permalink )
Oh, und zurücktreten im engeren Sinne kann er sogar gar nicht (Tagesschau zur rechtlichen Lage).

pappnase, Freitag, 30. Juli 2010, 17:17   (Permalink )
soll er sich doch abwählen lassen (ist zwar etwas komplizierter...), dann kann er direkt in die rente gehen wie der ole aus der hansestadt...

bonafide, Samstag, 31. Juli 2010, 15:08   (Permalink )
OT aber weil es der tag erfordert:

fühlen sie sich einfach mal gedrückt.

giardino, Sonntag, 1. August 2010, 20:05   (Permalink )
(danke)