Eine Woche China: Shanghai (Tag 8)
Mein letzter Morgen in China. Ich wache auf und blicke draußen vor dem Hotel auf der gegenüberliegenden Seite der mehrspurigen Hauptverkehrsstraße auf eine Gruppe Menschen, die synchron und offenbar mit gelben Papptafeln in der Hand gemeinsam eine Choreographie aufführen, in etwa wie Tai-Chi, nur irgendwie schneller. Es ist wieder kurz nach Acht, also vielleicht etwas Ähnliches wie auf der Baustelle in Shenzhen. Nach ein paar Minuten sind sie verschwunden und ich habe leider nicht mitbekommen, ob sie ins Gebäude gegangen sind. Bei uns wäre das jedenfalls gut als Flashmob durchgegangen.
Nach dem Frühstück dauert es eine Weile, bis mich ein Taxi mitnimmt – die vorgesehene Fahrt ins Zentrum ist vielen offenbar zu kurz – und ich fahre zum ersten Kunden, wo ich mich mit zwei Kollegen treffen werde, die mich begleiten und für mich dolmetschen werden. Es geht auf die Nangpu Bridge über den Fluss (einen Eindruck, wie lang die ist, bekommt man hier), und auf der anderen Seite auf einer Hochstraße quer durch die südliche Innenstadt. Wenn die Hochhaussiedlungen am südwestlichen Stadtrand noch arrangiert und gestaltet wirken, ist hier nur noch ein chaotischer Wald von Hochhäusern. Ich dachte wirklich, das Thema hätte ich so langsam durch, aber ich bin abermals völlig erschlagen von der schieren Menge und offensichtlichen Unordnung, in der sie stehen.

Nangpu Bridge

was das ist, konnte ich leider nicht herausfinden

praktisch: Fußgängerbrücken
Nach einem netten, aber nicht allzu ergiebigen Kundenbesuch gehen wir gemeinsam mit zwei Angestellten des Kunden in ein Restaurant und bekommen einen Einzeltisch. Es gibt Frühlingsrollen, gedünsteten Fisch, gefüllte Teigtaschen, knusprig gebratene kleine Scampis, Reisbällchen mit Muscheln, frittierte Hühnerflügel, geschmortes Gemüse mit Pilzen, ... ich könnte das wirklich jeden Tag essen. Inklusive dem obligatorischen heißen Tee dazu.
Wir besuchen anschließend noch einen zweiten Kunden, ebenfalls ein entspannter Besuch, immerhin bekomme ich schon einen ganz guten Eindruck davon, in welcher Umgebung und mit welchen Prioritäten die Kunden unsere Produkte nutzen, was sie gut finden und wo sie Verbesserungen wünschen.

Ein Kollege möchte mir noch ein wenig Shanghai zeigen, so fahren wir mit dem Taxi eine ganze Weile lang ins Finanzviertel (ich hatte ihm nicht gesagt, dass ich dort schon war, aber ich fand das auch nicht schlimm, auch nochmals mit einem Einheimischen dorthin zu fahren). Im Taxi hängen wir beide unseren Gedanken nach. Ich denke daran, was für eine unfassbare Sache, dass seit 1980 praktisch kaum mehr Geschwisterkinder in China auf die Welt kommen (auch wenn es auf dem Land wohl immer schon Ausnahmen gab und in jüngster Zeit aufgrund der Nachteile in der demographischen Entwicklung die Politik generell wieder davon Abstand nimmt). Dass der Staat sich überhaupt herausnimmt, Schwangerschaften zu genehmigen. Dass infolge dieser Politik Mädchen öfter abgetrieben wurden (was der Staat wohl nur bedingt erfolgreich verbieten konnte), so dass mindestens ein Fünftel der jungen Männer ganz ohne Frau bleiben muss. Unfassbar.

Zwischen den Hochhausansammlungen finden sich überraschend kleine, niedrig bebaute Viertel mit kleinen Alleen, man fühlt sich wie in Europa. Der Kollege schenkt mir im Namen seines Teams eine kleine Tafel mit Figuren der chinesischen Oper, die eher etwas... nein, über Geschenke soll man nichts sagen. Überhaupt bin ich super betreut worden und ich konnte in dem Maß mitmachen oder für mich sein, wie es für mich gut war – für mich die ideale Form von Gastfreundschaft. Wir laufen am Flußufer entlang, sehen diesmal die alten Gebäude des Bunds auf der anderen Seite des Flusses, kaufen uns einen Kaffee bei Starbucks, und mein Kollege erzählt, wie glücklich er ist, hier in Shanghai bei unserer Firma arbeiten zu können, wo er doch eigentlich vom Land kommt, als Kind in der Landwirtschaft aufgewachsen, und es eine große Konkurrenz von jungen Leuten gibt, die von dort aus in die großen Städte drängen.
Wir verabschieden uns, ich fahre zurück zum Hotel und verbringe noch ein paar Stunden in der Hotellobby bei freiem Internet, und in der klimatisierten, zu kalten Luft spüre ich, dass sich meine Erkältung wohl nicht länger niederkämpfen lässt. Schließlich steige ich in die Metro, fahre ein paar Stationen und erfülle mir noch einen Traum, nämlich einmal mit der Magnetschnellbahn zu fahren, die von hier zum internationalen Flughafen führt. (Hier bitte die Stoiber-Rede einsetzen.) Wow, das ist cool. Auch wenn sie nur 300 statt 430 km/h fährt – die volle Geschwindigkeit gibt's nur zur Rushhour – und es draußen längst dunkel ist, ist es schon ein Erlebnis, wie schnell man beschleunigt wird. Was dann aber auch das Problem ist; die 40 km Strecke bis zum Flughafen sind nach nicht einmal 10 Minuten auch schon wieder zurückgelegt, ein sehr kurzes Erlebnis. Mit umgerechnet 5€ bei vorliegendem Flugticket aber auch sehr, sehr preiswert. Ich hätte allerdings gedacht, dass man nur von Windgeräuschen begleitet dahinschwebt, nicht dass noch so viele motorenartige Geräusche und Rumpeln dabei sind.
Einchecken, Passkontrolle (auf den Bildschirmen laufen perfekt inszenierte Imagefilme der Immigration-Behörde, die sie als Dienstleister des Passagiers porträtieren – Motto: The Power of Smile), Warten am Gate, bis wir schließlich um halb zwölf abends mit dem Flugzeug abheben, über China fliegen, die Mongolei, halb Sibirien, nördlich von Moskau, über Warschau und Breslau schließlich nach München. Diesmal bin ich richtig müde, habe keinen Sinn für Filme und schlafe deutlich mehr als beim Hinflug. Auch draußen gibt es nichts zu sehen, was das Image der vollkommenen Ödnis der Mongolei und Sibiriens irgendwie korrigieren würde. Nach dem Umstieg nach Nürnberg bin ich schließlich gegen 10 Uhr wieder zuhause und freue mich, die Möwe wieder in den Arm nehmen zu können.

Mein Fazit: Wow. Was für eine Woche. Man wird in seinem angenehm-gesättigten Grundgefühl, die Welt drehe sich um Europa, ganz schön zurechtgestutzt. Es wundert mich nicht mehr, dass deutsche Manager seit Jahren so chinafixiert sind, denn hier spielt ganz offenbar die Musik, weltwirtschaftlich gesehen, auf Produktions- wie auf Verbrauchsseite. Ich finde den Pragmatismus bewundernswert, mit dem die Chinesen diesen irren Spagat zwischen alter Kultur und Supermoderne, Staatskommunismus und Turbokapitalismus, großer Armut und großen Vermögen meistern und dabei offenbar aufgeschlossen und humorvoll bleiben. Und doch, der Einzelne gilt im Zweifelsfall nichts, auch Konsum und kleine persönliche Freiheiten sind nur geduldet, solange sie der Staatsideologie dienen, der Überwachungsstaat lastet auf dem Alltag mit seinen abertausenden privaten und staatlichen Sicherheitsleuten überall, Überwachungskameras und umfassender Kontrolle der elektronischen Kommunikation, dazu das Wissen um die Vorschriften bis in die allerprivatesten Belange hinein, den Zwangslagern und die exzessiv angewendete Todesstrafe, all das hinterlässt in Summe ein zwiespältiges Gefühl.

Ich bin schon auch wieder froh, zurück in meinem alten, vielleicht etwas verschnarchten und satten, aber freien Mitteleuropa zu sein.
  

[giardino, Donnerstag, 2. Mai 2013, 12:35] 1137



pappnase, Freitag, 3. Mai 2013, 06:52   (Permalink )
eine woche voller spannender eindrücke, kurzweilig beschrieben. ein segen bei schlaflosigkeit. danke.

anke5, Samstag, 4. Mai 2013, 23:14   (Permalink )
Dankeschön, sehr spannend.

frau klugscheisser, Dienstag, 21. Mai 2013, 12:36   (Permalink )
Das Gebäude auf dem dritten Bild sehe ich auch immer auf dem Weg vom Flughafen zur Innenstadt. Ich denke, es ist ein Regierungsgebäude.