Samstag, 9. Februar 2013
Geben. Hören. Sagen.
In der Mittelstufe fing es an. In der von allen nur Milchbar genannten Bude, einem vom Schulhof zugänglichen Raum mit ein paar Tischen und einer Theke, hinter der das Hausmeisterehepaar neben tetraverpackter Milch auch Kaffee, belegte Brötchen und Süßigkeiten verkaufte, trafen wir uns in Freistunden und spielten Karten.

In den ersten Monaten, in denen ich dabei war, spielten wir immer nur Ramsch, eine Skatvariante, bei der man keinen oder möglichst wenige Stiche machen muss (oder aber restlos alle). Später gingen wir irgendwann über zum vollständigen Skat, während wir in den letzten zwei Jahren der Oberstufe nur noch Doppelkopf kloppten – und Skat freilich auch noch, wenn wir keinen Vierten fanden, der sich zu einer, ähm, spontanen Freistunde überreden ließ.

Später erst stellte ich fest, dass sowohl mein Vater, mein großer Bruder (der aber nur noch sporadisch zuhause war) als auch mein Opa Skat beherrschten, und es gab manchen Abend, an dem wir uns bis tief in die Nacht hinein am Tisch festspielten. Wobei uns mein Opa meist gnadenlos abzockte. Er schien bei jedem Stich exakt zu wissen, welche Karten noch nicht gespielt waren und konnte teilweise nach dem Reizen schon genau vorhersagen, wieviele Punkte er machen würde. Unglaublich.

Als ich hierher nach Mittelfranken kam, war Schluss mit anspruchsvollem Kartenspiel, zumindest fanden sich unter meinen (prinzipiell von überall her zusammengewürfelten) Kommilitonen nie zwei oder gar drei Gleichgesinnte, um loszulegen. Wenn überhaupt, konnten die Leute Schafkopf, was ich als eine deutlich spannungs- und variantenärmere Variante von Doppelkopf empfinde, zumal es mit diesem deutschen Blatt (Schelle und Eichel, Ober und Unter usw.) gespielt wird, gegen das ich schon als Kind eine unerklärliche, geradezu körperliche Abneigung gepflegt habe. So beschränkten sich meine Kartenspiele der letzten zwanzig Jahre im Wesentlichen auf Patiencen oder Uno.

Aber wie geht dieser T-Shirt-Spruch? Wenn man neue Leute kennen lernen will, muss man ab einem gewissen Alter welche gebären. Ganz in diesem Sinne habe ich heute angefangen, meinen 13 und 15 Jahre alten Söhnen, die nicht weit von Regensburg wohnen, Skat beizubringen. Für den Einstieg natürlich erst einmal schlicht, nur Farbensoli. Alles Weitere wie Nullspiel, Grand – nur echt als Grang – und die ganzen Spielstufen Hand, Ouvert, Schneider, schwarz, das können wir alles später noch lernen (lies: muss ich selbst erst dringend nochmal nachlesen). Aber: hey, sie sind schon total begeistert. Und ich auch. War das ein Spaß!

Jetzt muss ich nur noch einen Plan ausarbeiten, wie ich auch die Möwe in die Sache ziehe, dann könnten wir am Ende womöglich sogar noch Doppelkopfen, und einer subtilen, fortschreitenden Nordrheinwestfalisierung der Oberpfalz stünde nichts mehr im Wege.

[giardino, 21:43] Permalink (11 Kommentare) 499



Donnerstag, 31. Januar 2013
Scham
Es ist bald sechs Jahre her, die Möwe und ich waren urlaubsreif, aber bekamen unsere Urlaubszeiten nicht überein, so dass wir – was wir sonst nie tun – einfach pauschal last-minute und einzeln verreisten. Ich flog vier Tage in die Nähe von Side, auch noch all inclusive, es war in der Vorsaison und bis auf wenige Deutsche und Engländer überall entsprechend leer.

Ich lag jeden Tag am hotelnahen Strand auf der Liege im Schatten und las von früh bis spät, wenn nicht gerade mal wieder Zeit war, zu essen oder zu trinken. Und damit ich nicht nach Hause fliegen würde, ohne zumindest irgendwas von der Gegend gesehen zu haben, beschloss ich am vorletzten Tag, den Bus zu nehmen und nach Side zu fahren, einer Küstenstadt mit Unmengen antiker Gemäuer und Tempel, und natürlich einer tourismusgeprägten Altstadt.

Ich streifte mit meiner Kamera durch das große Gelände der antiken Stadt zwischen lauter halb überwachsenen Ruinen umher, als ein alter Mann vorbeilief, der mir auf Deutsch mit starkem türkischem Akzent zurief, er müsse sowieso hier lang, er könne mir auf seinem Weg ein bisschen was zeigen. Ich zögerte, er insistierte, und schließlich ließ ich mich überreden. Er nahm sich Zeit, zeigte mir alle möglichen schönen Ecken, von denen ich eine gute Aussicht hatte und fotografieren konnte und erklärte mir die einzelnen Gebäude.

Schließlich stand er vor mir, sagte er müsse jetzt weiter, aber er wolle 30 Euro für seine Führung haben. Ich war perplex. Wütend, weil er mir vorgemacht hatte, einfach nur ein netter Mensch zu sein. Gleichzeitig beschämt, dass ich so naiv gewesen war. Ich gab ihm 20 Euro, immerhin war er wirklich ein guter Führer gewesen, aber ich sagte ihm auch, dass ich enttäuscht sei, dass er das nicht einfach von Anfang an ehrlich mit mir ausgehandelt hätte. Er akzeptierte ohne weitere Diskussion und verabschiedete sich, vermutlich hatte er ein Runterhandeln ohnehin schon eingepreist.

Schon mit dem blöden Gefühl, der dumme Tourist und irgendwie verarscht worden zu sein, lief ich in die Altstadtgassen, die zwar lebendiger als die fast verlassenen Ruinenfelder waren, aber angesichts der Vorsaison immer noch recht wenig besucht. Die Verkäufer der unzähligen Läden für Essbares, Ledertaschen, Kleidung und Souvenirs standen weitgehend unbeschäftigt an den Straßenrändern vor ihrer Ware.

Ich hatte mich darauf gefreut, den sonnigen, angenehm warmen Nachmittag genießen und durch die Stadt schlendern zu können, zu schauen und vielleicht ein Foto hier und da zu machen. Stattdessen fand ich mich in einem Spießrutenlauf wieder. Jeder, in dessen Richtung ich grob schaute, sprach mich sofort auf Englisch oder Deutsch an und ging auf mich zu, ich wehrte mit den Händen ab, schüttelte den Kopf, musste teilweise zwei oder dreimal deutlich »No thanks« sagen, damit sie von mir abließen, lief irgendwann nur noch mit gesenktem Blick, wurde auf die Schulter geklopft, am Oberarm festgehalten, irgendwer hielt mir, während mein Schritt immer zügiger wurde, mit einem Wortschwall im Laufen von schräg hinten einen Teller mit irgendwas Essbarem vor die Nase, ich hatte ihn vorher nicht mal wahrgenommen. Ich hatte soetwas noch nie erlebt und fühlte mich zunehmend in die Ecke gedrängt. Von einer Gasse in die nächste das gleiche Bild, ich fühlte mich wie in einem immer absurderen Film. Der Ausflug war nicht mehr zu retten und ich sah zu, nur noch schnell weg vom Zentrum zurück zur Bushaltestelle und von da aus ins Hotel zu kommen. Unnötig zu sagen, wie ich mich den Rest des Tages fühlte. Und sogar jetzt, Jahre nach diesem (offenbar ganz schnell verdrängten, wenn ich meinen alten Blogeintrag lese) Erlebnis kommt ein bisschen von diesem unguten Gefühl wieder hoch, inklusive Scham. » Haha, was hast du denn erwartet, wenn du in eine orientalische Tourismusfalle läufst?«, höre ich schon jemanden kommentieren, »Das ist doch lächerlich. Was bist du denn für ein Weichei?«

Warum erzähle ich davon? In den vergangenen Tagen habe ich hunderte von Tweets gelesen, in denen Frauen neben anderen Erlebnissen berichteten, wie sie alltäglich im öffentlichen Raum angemacht, zum Ausweichen genötigt, verfolgt, teilweise angefasst und vor allem immer wieder ihre klaren verbalen und nonverbalen Signale ignoriert werden, dass sie in Ruhe gelassen werden möchten. Ich habe nur einmal erlebt, wie es ist, als reines Objekt – in dem Fall eine wandelnde Brieftasche – wahrgenommen zu werden, nur an diesem einen Nachmittag und diesem einen Ort, aus dem ich mich schnell wieder zurückziehen konnte, als Erwachsener, ganz ohne Angst vor körperlicher Scham oder gar Verletzung haben zu müssen. Tatsächlich lächerlich, auf seine Art. Aber es reicht, mir ansatzweise auszumalen, wie es sich anfühlen muss, ein halbes Leben lang mit dergleichen rechnen zu müssen, und sei es nur im Hinterkopf wenn man überlegt, wo man sich heute wann, wie gekleidet und in welcher Gesellschaft aufhalten wird und wie man wieder zurück kommt.

Für mich war das ein Grund, in den vergangenen Tagen weitgehend die Klappe zu halten und dem #aufschrei auf Twitter zuzuhören. Und jetzt, wo die große emotionale Welle vorüber ist, zu überlegen, wie ich verdammt noch mal dazu beitragen kann, dass meine Söhne einmal nicht zu denen gehören werden, die verbal oder gar körperlich übergriffig werden. Sondern dazwischengehen, wenn andere das tun.

[giardino, 01:54] Permalink (12 Kommentare) 1370