Scham
Es ist bald sechs Jahre her, die Möwe und ich waren urlaubsreif, aber bekamen unsere Urlaubszeiten nicht überein, so dass wir – was wir sonst nie tun – einfach pauschal last-minute und einzeln verreisten. Ich flog vier Tage in die Nähe von Side, auch noch all inclusive, es war in der Vorsaison und bis auf wenige Deutsche und Engländer überall entsprechend leer.

Ich lag jeden Tag am hotelnahen Strand auf der Liege im Schatten und las von früh bis spät, wenn nicht gerade mal wieder Zeit war, zu essen oder zu trinken. Und damit ich nicht nach Hause fliegen würde, ohne zumindest irgendwas von der Gegend gesehen zu haben, beschloss ich am vorletzten Tag, den Bus zu nehmen und nach Side zu fahren, einer Küstenstadt mit Unmengen antiker Gemäuer und Tempel, und natürlich einer tourismusgeprägten Altstadt.

Ich streifte mit meiner Kamera durch das große Gelände der antiken Stadt zwischen lauter halb überwachsenen Ruinen umher, als ein alter Mann vorbeilief, der mir auf Deutsch mit starkem türkischem Akzent zurief, er müsse sowieso hier lang, er könne mir auf seinem Weg ein bisschen was zeigen. Ich zögerte, er insistierte, und schließlich ließ ich mich überreden. Er nahm sich Zeit, zeigte mir alle möglichen schönen Ecken, von denen ich eine gute Aussicht hatte und fotografieren konnte und erklärte mir die einzelnen Gebäude.

Schließlich stand er vor mir, sagte er müsse jetzt weiter, aber er wolle 30 Euro für seine Führung haben. Ich war perplex. Wütend, weil er mir vorgemacht hatte, einfach nur ein netter Mensch zu sein. Gleichzeitig beschämt, dass ich so naiv gewesen war. Ich gab ihm 20 Euro, immerhin war er wirklich ein guter Führer gewesen, aber ich sagte ihm auch, dass ich enttäuscht sei, dass er das nicht einfach von Anfang an ehrlich mit mir ausgehandelt hätte. Er akzeptierte ohne weitere Diskussion und verabschiedete sich, vermutlich hatte er ein Runterhandeln ohnehin schon eingepreist.

Schon mit dem blöden Gefühl, der dumme Tourist und irgendwie verarscht worden zu sein, lief ich in die Altstadtgassen, die zwar lebendiger als die fast verlassenen Ruinenfelder waren, aber angesichts der Vorsaison immer noch recht wenig besucht. Die Verkäufer der unzähligen Läden für Essbares, Ledertaschen, Kleidung und Souvenirs standen weitgehend unbeschäftigt an den Straßenrändern vor ihrer Ware.

Ich hatte mich darauf gefreut, den sonnigen, angenehm warmen Nachmittag genießen und durch die Stadt schlendern zu können, zu schauen und vielleicht ein Foto hier und da zu machen. Stattdessen fand ich mich in einem Spießrutenlauf wieder. Jeder, in dessen Richtung ich grob schaute, sprach mich sofort auf Englisch oder Deutsch an und ging auf mich zu, ich wehrte mit den Händen ab, schüttelte den Kopf, musste teilweise zwei oder dreimal deutlich »No thanks« sagen, damit sie von mir abließen, lief irgendwann nur noch mit gesenktem Blick, wurde auf die Schulter geklopft, am Oberarm festgehalten, irgendwer hielt mir, während mein Schritt immer zügiger wurde, mit einem Wortschwall im Laufen von schräg hinten einen Teller mit irgendwas Essbarem vor die Nase, ich hatte ihn vorher nicht mal wahrgenommen. Ich hatte soetwas noch nie erlebt und fühlte mich zunehmend in die Ecke gedrängt. Von einer Gasse in die nächste das gleiche Bild, ich fühlte mich wie in einem immer absurderen Film. Der Ausflug war nicht mehr zu retten und ich sah zu, nur noch schnell weg vom Zentrum zurück zur Bushaltestelle und von da aus ins Hotel zu kommen. Unnötig zu sagen, wie ich mich den Rest des Tages fühlte. Und sogar jetzt, Jahre nach diesem (offenbar ganz schnell verdrängten, wenn ich meinen alten Blogeintrag lese) Erlebnis kommt ein bisschen von diesem unguten Gefühl wieder hoch, inklusive Scham. » Haha, was hast du denn erwartet, wenn du in eine orientalische Tourismusfalle läufst?«, höre ich schon jemanden kommentieren, »Das ist doch lächerlich. Was bist du denn für ein Weichei?«

Warum erzähle ich davon? In den vergangenen Tagen habe ich hunderte von Tweets gelesen, in denen Frauen neben anderen Erlebnissen berichteten, wie sie alltäglich im öffentlichen Raum angemacht, zum Ausweichen genötigt, verfolgt, teilweise angefasst und vor allem immer wieder ihre klaren verbalen und nonverbalen Signale ignoriert werden, dass sie in Ruhe gelassen werden möchten. Ich habe nur einmal erlebt, wie es ist, als reines Objekt – in dem Fall eine wandelnde Brieftasche – wahrgenommen zu werden, nur an diesem einen Nachmittag und diesem einen Ort, aus dem ich mich schnell wieder zurückziehen konnte, als Erwachsener, ganz ohne Angst vor körperlicher Scham oder gar Verletzung haben zu müssen. Tatsächlich lächerlich, auf seine Art. Aber es reicht, mir ansatzweise auszumalen, wie es sich anfühlen muss, ein halbes Leben lang mit dergleichen rechnen zu müssen, und sei es nur im Hinterkopf wenn man überlegt, wo man sich heute wann, wie gekleidet und in welcher Gesellschaft aufhalten wird und wie man wieder zurück kommt.

Für mich war das ein Grund, in den vergangenen Tagen weitgehend die Klappe zu halten und dem #aufschrei auf Twitter zuzuhören. Und jetzt, wo die große emotionale Welle vorüber ist, zu überlegen, wie ich verdammt noch mal dazu beitragen kann, dass meine Söhne einmal nicht zu denen gehören werden, die verbal oder gar körperlich übergriffig werden. Sondern dazwischengehen, wenn andere das tun.

[giardino, Donnerstag, 31. Januar 2013, 01:54] 1369



kaltmamsell, Donnerstag, 31. Januar 2013, 10:48   (Permalink )
Im Hotel Mama verlinkte kid37 ein Foto, das genau das einfängt:
http://www.amptoons.com/blog/wp-content/uploads/2013/01/American-Girl-in-Italy-ruth-orkin.jpg

arboretum, Donnerstag, 31. Januar 2013, 12:44   (Permalink )
Zum Glück sind auch wir Frauen nicht sieben Tage die Woche 24 Stunden lang alltäglichen Übergriffen ausgesetzt. Aber es passiert eben immer wieder - und nicht nur ein halbes Leben lang.

dentaku, Donnerstag, 31. Januar 2013, 13:30   (Permalink )
Interessante Parallele.

bluetenstaub, Donnerstag, 31. Januar 2013, 16:45   (Permalink )
Aber es reicht, mir ansatzweise auszumalen, wie es sich anfühlen muss, ein halbes Leben lang mit dergleichen rechnen zu müssen...

Ich finde den Vergleich etwas, naja, gewagt. Oder zumindest nicht verhältnismäßig. Das Dasein als Frau ist nun wirklich kein reiner, fortwährender Spießrutenlauf.

giardino, Donnerstag, 31. Januar 2013, 17:00   (Permalink )
Ich habe nicht von einem fortwährenden Spießrutenlauf gesprochen, aber es gibt soetwas wie eine fortwährende Vorsicht. Wenn ich das richtig verstanden habe (aus Tweets wie aus persönlichen Gesprächen), dieses damit-rechnen-Müssen, belästigt zu werden, und im-Vorfeld-soweit-abchecken-und-möglichst-Vermeiden vieler Situationen steckt dann doch in den Allermeisten drin. Wie man sieht, nicht ohne Grund.

arboretum, Donnerstag, 31. Januar 2013, 17:10   (Permalink )
Das stimmt schon. Die typischen Situationen, in denen man das Gefühl hat, allenfalls ein Transitvisum zu besitzen.

bluetenstaub, Donnerstag, 31. Januar 2013, 17:39   (Permalink )
Gut, dann können wir doch einfach festhalten: Es gibt solche und solche Frauen. Ich kenne diese fortwährende Vorsicht nicht. Und mir fallen auch auf Anhieb ein paar weibliche Freundinnen ein, denen ich unterstellen würde, dass sie dieses Vorsichtsdenken ebenso wenig verinnerlicht haben. Und das muss frau ja auch sagen dürfen.

Ich glaube, das ist auch mit ein Grund (neben dem bereits bei Herrn Mark erwähnten), weshalb ich mich zu diesem Thema zu Wort melde. Nicht um die Erfahrungen anderer zu negieren, bagatellisieren oder relativieren, aber weil ich meine Perspektive darstellen möchte, wenn Menschen mir erklären, wie ich als Frau bin/fühle/denke, und mir das so gar nicht entspricht.

Ich ging heute in einem knappen Etuikleid über den Pausenhof einer technisch-gewerblichen Schule (Männerquote so ca. 95%). Das Kleid habe ich gewählt, weil es mir gefällt und ich mich darin wohl fühle. Ich wähle nicht danach aus, wie vielen Männern ich am Tag begegnen werde oder mit welchem Verkehrsmittel ich mich bewege.

Und dann rief doch glatt einer der Schüler: "Geile M*sch*!" als ich an ihm vorbei ging, und ich musste direkt an meine gestrige Aussage denken, dass ich nicht sexistisch belästigt werde, und mir wurde klar: Ich nehme das nicht als solches wahr und ziehe auch keine Konsequenzen daraus in dem Sinne, dass ich mich in Zukunft "vorsichtiger" (wie auch immer das aussehen könnte) verhalte.

(Die Aussage des Schülers galt dann aber dem in meiner Nähe geparkten Motorrad eines Kollegen, nicht mir.)

giardino, Donnerstag, 31. Januar 2013, 18:48   (Permalink )
Dann sollte ich das ("allermeiste Frauen") in Zukunft vielleicht noch zurückhaltender formulieren. Ich will hier nicht projizieren.

Ich habe deinen vorletzten Absatz noch nicht verstanden: Wenn ein Schüler dir laut eine <Geschlechtsteilbezeichnung> hinterherrufen würde, würdest du das erst einmal nicht als Belästigung wahrnehmen? Oder nur nicht als sexistisch? Wie hättest du reagiert, wenn der Ausruf tatsächlich dir gegolten hätte?

bluetenstaub, Donnerstag, 31. Januar 2013, 20:46   (Permalink )
Sicher war ich kurz perplex, auch heute, bis ich merkte, dass es nicht mir galt. Aber ich empfinde einen solchen Ausruf weder als Belästigung noch als sexistisch mir gegenüber.

Ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte, aber wahrscheinlich hätte ich in einem schlagfertigen Moment so was gesagt wie, dass sie mir ja auch ein sprachlich wertvolleres Kompliment machen könnten. Wäre ich in Gedanken gewesen, wäre ich vielleicht auch einfach weitergegangen. Keine Ahnung. Jedenfalls: ich würde es nicht persönlich nehmen. Das ist wohl der entscheidende Punkt.

Zumindest bei jungen Männern steckt doch in der Regel hinter dieser coolen Fassade die reine Unsicherheit. Und dessen bin ich mir bewusst, wenn ich so etwas höre. Vielleicht auch, weil der Umgang mit dieser Altersgruppe für mich Alltag ist.

Wären das meine Schüler, zu denen ich eine Bindung habe (und damit auch Einflussmöglichkeit), würde die Sache insofern noch mal anders aussehen, als ich dann einen Erziehungsauftrag hätte und den auch wahrnehmen wollte. Will sagen: ich akzeptiere diese Ausdrucksweise nicht, aber sie macht mir keine Angst und ich fühle mich auch nicht persönlich betroffen. Und ich würde deshalb auch nicht aufhören Kleider zu tragen.

arboretum, Donnerstag, 31. Januar 2013, 21:27   (Permalink )
Bei dem von Herrn Giardino angesprochenen Vermeidungsverhalten und der Vorsicht geht es wohl eher um dunkle, potenziell gefährliche Straßen und Orte usw. Mit einem kurzen Kleidchen über den Hof einer Berufsschule zu gehen, würde ich nun nicht dazu zählen. Sie sagten ja schon bei Herrn Mark, dass Sie nachts so gut wie nie allein und zu Fuß unterwegs sind und zudem ländlich wohnen. Vielleicht hatten Sie einfach Glück und Ihnen sind die unangenehmeren oder gefährlichen Situationen bislang erspart geblieben.

Ich, zum Beispiel, habe nach einer nächtlichen Begegnung mit einem Exhibitionisten auf einem dunklen Parkplatz diesen fortan gemieden. Es war nicht der erste Exhibitionist, dem ich begegnet bin - dem ersten habe ich dann meinerseits einen Schrecken eingejagt, damit er das nicht das nächste Mal vor jüngeren Mädchen macht -, aber es war ein gefährlicher, da eindeutig aggressiv. Er muss mir und meiner Freundin zuvor schon gefolgt sein, ohne dass wir es bemerkt hatten. Wir kamen aus der Kneipe und alberten auf dem kurzen Weg zum Auto noch herum, waren also unaufmerksam.

Wir zeigten den Vorfall an, weil wir zufällig kurz danach eine Polizeistreife sahen und durften dann ein paar Tage später auf dem Polizeipräsidium zwei Stunden lang zwei dicke Ordner voller Polaroids von polizeibekannten Exhibitionisten anschauen, es waren sechs Fotos pro Seite. Seither weiß ich, wie viele Exhibitionisten in dieser Stadt leben - und dabei bekamen wir nur die Fotos von denen gezeigt, die keine Gewalt anwenden. Nachdem ich jahrelang auf diesem kleinen Parkplatz unter Bäumen geparkt hatte - es war ein Schulparkplatz, der abends für die Öffentlichkeit frei gegeben war -, habe ich das danach nie wieder getan. Ich wollte nicht riskieren, ihm nochmals alleine zu begegnen. Ich kenne übrigens keine Frau, die noch nie einem Exhibitionisten begegnet ist, und auch bei den anderen Frauen war das nicht immer harmlos.

bluetenstaub, Freitag, 1. Februar 2013, 11:48   (Permalink )
Ja, das sind ja auch ganz andere Dimensionen, von denen Sie berichten. Diese Differenzierung ist wichtig.

sturmfrau, Donnerstag, 31. Januar 2013, 17:25   (Permalink )
Was Sie beschreiben, ist ein schönes Beispiel für das Unterschreiten der Individualdistanz. Wie unangenehm sich das anfühlt, wenn das jemand tut, ohne dass man sich abgrenzen kann oder sich das traut! Wären wir Tiere, dann würden wir beißen, knurren, hacken, treten oder flüchten.

Ich habe einen Kollegen, der eine zeitlang dazu neigte, mir seine Hand dauernd ungefragt aufs Knie zu legen, den Arm um die Schultern, um die Taille, der mit seinem Gesicht permanent nah an das meine kam - weitaus näher, als mir lieb war. Aber zu einer natürlichen Abwehrreaktion kam es nicht. Man will ja nicht die prüde Zicke sein, die mit derlei "Harmlosigkeiten" nicht umgehen kann und aus einer Mücke einen Elefanten macht. Aber es ist ein Elefant.

In Ihrem Fall war es vielleicht die kulturelle Schranke, die Ihre natürliche Abwehrreaktion unterdrückte. Manchmal ist es aber auch das schiere Unvermögen, das sich darin begründet, dass wir nicht gewalttätig werden wollen, weil wir fürchten, zu unterliegen oder jemanden ernsthaft zu verletzen. Oder, weil wir tatsächlich unterlegen sind.

Danke für den Einblick!