Donnerstag, 31. Januar 2013
Scham
Es ist bald sechs Jahre her, die Möwe und ich waren urlaubsreif, aber bekamen unsere Urlaubszeiten nicht überein, so dass wir – was wir sonst nie tun – einfach pauschal last-minute und einzeln verreisten. Ich flog vier Tage in die Nähe von Side, auch noch all inclusive, es war in der Vorsaison und bis auf wenige Deutsche und Engländer überall entsprechend leer.

Ich lag jeden Tag am hotelnahen Strand auf der Liege im Schatten und las von früh bis spät, wenn nicht gerade mal wieder Zeit war, zu essen oder zu trinken. Und damit ich nicht nach Hause fliegen würde, ohne zumindest irgendwas von der Gegend gesehen zu haben, beschloss ich am vorletzten Tag, den Bus zu nehmen und nach Side zu fahren, einer Küstenstadt mit Unmengen antiker Gemäuer und Tempel, und natürlich einer tourismusgeprägten Altstadt.

Ich streifte mit meiner Kamera durch das große Gelände der antiken Stadt zwischen lauter halb überwachsenen Ruinen umher, als ein alter Mann vorbeilief, der mir auf Deutsch mit starkem türkischem Akzent zurief, er müsse sowieso hier lang, er könne mir auf seinem Weg ein bisschen was zeigen. Ich zögerte, er insistierte, und schließlich ließ ich mich überreden. Er nahm sich Zeit, zeigte mir alle möglichen schönen Ecken, von denen ich eine gute Aussicht hatte und fotografieren konnte und erklärte mir die einzelnen Gebäude.

Schließlich stand er vor mir, sagte er müsse jetzt weiter, aber er wolle 30 Euro für seine Führung haben. Ich war perplex. Wütend, weil er mir vorgemacht hatte, einfach nur ein netter Mensch zu sein. Gleichzeitig beschämt, dass ich so naiv gewesen war. Ich gab ihm 20 Euro, immerhin war er wirklich ein guter Führer gewesen, aber ich sagte ihm auch, dass ich enttäuscht sei, dass er das nicht einfach von Anfang an ehrlich mit mir ausgehandelt hätte. Er akzeptierte ohne weitere Diskussion und verabschiedete sich, vermutlich hatte er ein Runterhandeln ohnehin schon eingepreist.

Schon mit dem blöden Gefühl, der dumme Tourist und irgendwie verarscht worden zu sein, lief ich in die Altstadtgassen, die zwar lebendiger als die fast verlassenen Ruinenfelder waren, aber angesichts der Vorsaison immer noch recht wenig besucht. Die Verkäufer der unzähligen Läden für Essbares, Ledertaschen, Kleidung und Souvenirs standen weitgehend unbeschäftigt an den Straßenrändern vor ihrer Ware.

Ich hatte mich darauf gefreut, den sonnigen, angenehm warmen Nachmittag genießen und durch die Stadt schlendern zu können, zu schauen und vielleicht ein Foto hier und da zu machen. Stattdessen fand ich mich in einem Spießrutenlauf wieder. Jeder, in dessen Richtung ich grob schaute, sprach mich sofort auf Englisch oder Deutsch an und ging auf mich zu, ich wehrte mit den Händen ab, schüttelte den Kopf, musste teilweise zwei oder dreimal deutlich »No thanks« sagen, damit sie von mir abließen, lief irgendwann nur noch mit gesenktem Blick, wurde auf die Schulter geklopft, am Oberarm festgehalten, irgendwer hielt mir, während mein Schritt immer zügiger wurde, mit einem Wortschwall im Laufen von schräg hinten einen Teller mit irgendwas Essbarem vor die Nase, ich hatte ihn vorher nicht mal wahrgenommen. Ich hatte soetwas noch nie erlebt und fühlte mich zunehmend in die Ecke gedrängt. Von einer Gasse in die nächste das gleiche Bild, ich fühlte mich wie in einem immer absurderen Film. Der Ausflug war nicht mehr zu retten und ich sah zu, nur noch schnell weg vom Zentrum zurück zur Bushaltestelle und von da aus ins Hotel zu kommen. Unnötig zu sagen, wie ich mich den Rest des Tages fühlte. Und sogar jetzt, Jahre nach diesem (offenbar ganz schnell verdrängten, wenn ich meinen alten Blogeintrag lese) Erlebnis kommt ein bisschen von diesem unguten Gefühl wieder hoch, inklusive Scham. » Haha, was hast du denn erwartet, wenn du in eine orientalische Tourismusfalle läufst?«, höre ich schon jemanden kommentieren, »Das ist doch lächerlich. Was bist du denn für ein Weichei?«

Warum erzähle ich davon? In den vergangenen Tagen habe ich hunderte von Tweets gelesen, in denen Frauen neben anderen Erlebnissen berichteten, wie sie alltäglich im öffentlichen Raum angemacht, zum Ausweichen genötigt, verfolgt, teilweise angefasst und vor allem immer wieder ihre klaren verbalen und nonverbalen Signale ignoriert werden, dass sie in Ruhe gelassen werden möchten. Ich habe nur einmal erlebt, wie es ist, als reines Objekt – in dem Fall eine wandelnde Brieftasche – wahrgenommen zu werden, nur an diesem einen Nachmittag und diesem einen Ort, aus dem ich mich schnell wieder zurückziehen konnte, als Erwachsener, ganz ohne Angst vor körperlicher Scham oder gar Verletzung haben zu müssen. Tatsächlich lächerlich, auf seine Art. Aber es reicht, mir ansatzweise auszumalen, wie es sich anfühlen muss, ein halbes Leben lang mit dergleichen rechnen zu müssen, und sei es nur im Hinterkopf wenn man überlegt, wo man sich heute wann, wie gekleidet und in welcher Gesellschaft aufhalten wird und wie man wieder zurück kommt.

Für mich war das ein Grund, in den vergangenen Tagen weitgehend die Klappe zu halten und dem #aufschrei auf Twitter zuzuhören. Und jetzt, wo die große emotionale Welle vorüber ist, zu überlegen, wie ich verdammt noch mal dazu beitragen kann, dass meine Söhne einmal nicht zu denen gehören werden, die verbal oder gar körperlich übergriffig werden. Sondern dazwischengehen, wenn andere das tun.

[giardino, 01:54] Permalink (12 Kommentare) 1367



Sonntag, 27. Januar 2013
Warum ich Katholik bin
[Hinweis, über ein Jahr später: Dieser Text entstand wenige Wochen vor dem Rückzug von Joseph Ratzinger; Papst bezieht sich hier also noch auf Papst Benedikt XVI. Mit Franziskus haben sich einige Dinge und auch meine Haltung zum Papst inzwischen zum Positiveren geändert.]

In den vergangenen Wochen kam in meiner Ecke des Internets an verschiedenen Stellen die Frage auf, ob und woran man glaubt. Und unvermeidlich auch die Frage, wie man heute noch Katholik sein könne. Teilweise mit der Stimme eines Anklägers, sich vor dem Gericht zu rechtfertigen (was meine Lust zu antworten verständlicherweise etwas getrübt hat), teilweise wurde ich aber auch persönlich gefragt, aus ehrlichem Interesse.

Es haben in den letzten Wochen einige über das Thema gebloggt, zum Einen über ihren eigenen Glauben oder Nicht-Glauben, zum Anderen über ihre Haltung zur katholischen Kirche im Besonderen (siehe Links am Ende). Ich hatte gehofft, mich um eine Antwort drücken zu können, aber es gibt zwei Aspekte, die ich in den Beiträgen bislang vermisst habe, die aber – zumindest für mich – den Kern von Glauben und Kirchenzugehörigkeit ausmachen.

Ich versuche mal, das auf den Punkt zu bringen. Sorry, das wird länger – kein Thema für 140 Zeichen. Auch wenn ich schon gefühlt 50 Themen ausgelassen habe, die man mit Katholiken gemeinhin gerne diskutiert.


Der Kern

Ich glaube an Gott. Ich glaube, dass jemand / etwas / ein Wesen existiert, das weit über den einzelnen Menschen hinausgeht. Ich glaube daran, dass in jedem Lebewesen, ganz besonders in jedem Menschen, Spuren dieses göttlichen Wesens zu finden sind. Und ich glaube, dass dieser Gott* uns gegenüber wohlwollend und liebevoll ist.

Und im letzten Satz steckt im Ansatz schon das, was ich in der bisherigen Debatte vermisst habe: Es geht nicht allein um eine Vorstellung, wie Dinge in dieser Welt zusammenhängen, ein Erklärungsmodell, ein Gedankenkonstrukt. Es geht um eine Beziehung. Dieser Gott ist lebendig. Ich kann mit ihm persönlich kommunizieren. Ich kann mich an ihn wenden, und manchmal glaube ich auch, seine Antworten lesen zu können, in meinem Inneren, in dem, was mir widerfährt oder in anderen Menschen.

Darüber hinaus glaube ich, dass dieser Gott als Jesus Christus auf die Welt gekommen ist, unter den Menschen gelebt hat und den Tod überwunden hat. Das ist der spezifisch christliche Anteil, die Konfession, in die ich hineingewachsen bin. Wäre ich in einer anderen Gegend der Welt oder einem anderen Milieu aufgewachsen, wäre ich womöglich Muslim oder Buddhist geworden. Das heißt einerseits, ich kann wohl kaum mein Bekenntnis einfach über andere Bekenntnisse stellen. Das heißt aber andererseits auch nicht, dass mein Glaube beliebig oder austauschbar wäre. Wenn ich die Evangelien lese, wenn ich den Kern der christlichen Botschaft höre und versuche, das mit meinem Inneren und dem überein zu bringen, was ich selbst um mich herum wahrnehme, dann fügen sich Botschaft und meine sehr persönliche Empfindung zusammen, alles ergibt Sinn.

Dieses Wissen und Spüren der Gegenwart eines Gottes, der mir und anderen Menschen Gutes will und uns begleitet, wenn wir in Schwierigkeiten sind und leiden, das trägt mich und gibt mir Kraft.

Dieser Glauben ist mir im Übrigen nicht nur in den Schoß gefallen, ich habe mich bewusst dafür entschieden, nachdem für mich jahrelang alles komplett infrage stand.


Der Gottesdienst

Der zweite, wichtige Aspekt, der mir bislang zu kurz kam. ist der regelmäßige Gottesdienst. Es mag womöglich Menschen geben, für die das nicht gilt, aber mein Glaube braucht regelmäßige Auffrischung. Infragestellen. Anregung, nicht stehen zu bleiben, sondern mich weiterzuentwickeln. Wenn ich nicht im Tümpel meiner Egoismen versumpfen soll, brauche ich regelmäßig den Kontakt zu einer frischen Quelle. Gottesdienst bedeutet, mit anderen, die die gleichen Fragen ans Leben haben zusammenzukommen, um Gott zu loben, sein Wort zu hören, dargelegt zu bekommen, zu meditieren, singen, für andere zu beten. Und so sehr ich mich auch immer freue, wenn vorne auch ein Priester steht, der mit beiden Beinen fest im Leben steht und toll predigen kann, das ist nur ein Aspekt eines Gottesdienstes. An manchen Tagen ist es ein Lied oder eine einzige Gebetszeile, die etwas in mir bewegen, wofür es sich schon gelohnt hat, hinzugehen.

Seit dem Umzug vor einem Jahr habe ich es leider noch nicht geschafft, in der neuen Gemeinde wieder zu einer Regelmäßigkeit im Gottesdienstbesuch zu finden. Und ich spüre, wie sehr mir das fehlt. So sehr, dass ich als Maßnahme gegen meine Bequemlichkeit überlege, mich so wie früher in verschiedenen Gemeinden, in denen ich gelebt habe, auch hier wieder aktiv bei meinem Steckenpferd Gottesdienstgestaltung einzubringen, ob als Kantor, Lektor oder sonstwie.

Ich persönlich könnte mir ehrlicherweise noch einen Glauben ohne viel Gemeindeleben vorstellen, auch wenn dadurch vieles verloren ginge. Aber ohne Gottesdienst geht es definitiv überhaupt nicht.


Aber der Papst. Und der Meisner.

Ja, der Papst. Oft rege ich mich über ihn auf. Vermutlich im Mittel sogar leidenschaftlicher als jemand, dem die katholische Kirche schnurz ist. Und auch wenn er das Oberhaupt des Ganzen ist, hat er doch erst einmal ungefähr die Auswirkung auf mein religiöses Leben wie Angela Merkel auf das Leben eines durchschnittlichen Deutschen, nämlich praktisch keine.

Maßgeblicher ist da schon, wer dein Bischof ist, welches Menschenbild er vertritt und wie er mit den Priestern und Gläubigen in seinem Verantwortungsbereich umgeht. Hier gibt es konservative Hardliner wie beispielsweise in Köln, aber auch vernünftige, gute Bischöfe wie Ludwick Schick, in dessen Diözese ich lebe. Auch die Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz, wie viele Jahre lang Karl Lehmann oder nun Robert Zollitsch, erscheinen mir als gute Leute, denen Barmherzigkeit und Vertrauen in die Menschen näher zu sein scheinen als Verurteilung, Misstrauen und die Erwartung bedingungslosem Gehorsams. Es ist, wie es immer ist: Von den Guten, Vernünftigen sieht und hört man wenig, auch wenn sie die Mehrheit sind. Wen man aber immer sieht, sind Typen wie Mixa, Meisner oder Müller, die arrogant ihre Menschenfeindlichkeit und Gestrigkeit behaupten.

Ja, ich schäme mich für die unsägliche Art, wie die deutsche Bischofskonferenz die Aufarbeitung des jahrzehntelang systematisch vertuschten Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch katholische Geistliche unlängst ohne Not diskreditiert hat und damit den Opfern gegenüber wieder einmal demonstriert, dass ihre Lebens- und Leidensgeschichte zweitrangig sind. Selbst wenn die Zusammenarbeit mit dem Pfeiffer-Institut tatsächlich problematisch gewesen sein sollte, was ich jetzt nicht ganz ausschließen möchte, warum konnte man nicht um eben dieses ungleich größeren, wichtigeren Ziels wegen in den sauren Apfel beißen? Alles nur, weil ein paar Bischöfen ihre Mitbestimmung über Art und Weise der Aufarbeitung nicht gereicht hat. Eine Schande.

Und über das jetzt bekannt gewordene Verhalten verschiedener Krankenhäuser in Köln und Regensburg, mutmaßliche Opfer von Vergewaltigungen pauschal wegen der theoretischen Möglichkeit abzuweisen, ihnen womöglich ein Verhütungsmittel verschreiben zu müssen, brauchen wir nicht zu reden. Übrigens ist auch das kein Konsens unter den Bischöfen; unser Bamberger Bischof hat diese Praxis öffentlich kritisiert. (Daneben bin ich durchaus der Meinung, dass der Staat hier das Recht wahrnehmen sollte, auch konfessionellen Krankenhäusern Vorschriften zu machen, wenn diese für die öffentliche Versorgung staatliche Gelder in Anspruch nehmen.)


Aber nochmal, wie kannst du bei solchen Oberen in der Kirche bleiben?

So wenig ich das Verhalten und die Aussagen sogar mancher Kirchenoberen oder auch bestimmter Gruppen in der Kirche für vereinbar mit dem christlichen und katholischen Glauben halte, so wenig heißt mein Verbleiben in der Kirche, dass ich diese Ansichten selbst vertreten würde. So wie ich nicht die deutsche Staatsbürgerschaft ablege, nur weil ich die Regierung ablehne, um den hinkenden Vergleich von vorhin nochmal zu bemühen.

(Das ist übrigens ein Standardmuster von Katholikenhassern, sich erst über die angebliche Obrigkeitshörigkeit von Gläubigen zu mokieren, aber wenn man ihnen klarmacht, dass man selbst und ein großer Teil der Kirche bestimmte Lehrmeinungen wesentlich differenzierter sehen, vorzuwerfen, man sei ja gar kein richtiger Katholik.)

Die Erzkonservativen in der katholischen Kirche sind nicht die Mehrheit. Nicht in Deutschland und vermutlich auch nicht in vielen anderen Gegenden der Erde. Der Vatikan mag strotzen vor konservativen, uralten Männern, die sich nach alten Zeiten und altem Einfluss auf ihre "Herde" zurücksehnen. Aber sind sie repräsentativ für 1.181.000.000 Katholiken auf der Welt? Nein. Sie repräsentieren ja nicht einmal die Frauen.

(Und auch, wenn ich selbst gerne mal scherzhaft von "Katholiban" oder "Pietcong" spreche, im ernst gemeinten Diskurs möge man selbst konservative Christen bitte nicht immer mit Taliban gleichsetzen, einer fundamentalreligiösen Miliz, die den regionalen Drogen-, Waffen- und Menschelhandel kontrolliert und jährlich tausende Menschen tötet, sei es nur, weil sie Kinder impfen oder sich dafür einsetzen, dass Mädchen zur Schule gehen können. Wäre ganz angenehm für die Diskussionskultur. Danke.)

Was den Ausschlag gibt, sind die Gemeinden vor Ort. Und hier gab es noch keine, in der ich mich nicht hätte zuhause fühlen können. Okay, bis auf die letzte in Erlangen, aber das war ein dörflich geprägter Ortsteil, deren Bewohner sich offensichtlich in ihren nach außen hin abweisenden Traditionen eingemauert haben. Dagegen hatte auch ein Pfundskerl von einem alten, westfälischen Pfarrer nichts ausrichten können.

Vor Ort kann man evangelische Geschäftsführer bei katholischen Sozialträgern finden, oder auch bekanntermaßen Homosexuelle in leitender Position, da gibt es Pfarrer, die wiederverheiratete Geschiedene ausdrücklich willkommen heißen, da gibt es Frauen, die die Predigt halten und Pfarrer, die öffentlich den Bischof kritisieren, wie unfair er mit einem jungen Kollegen umgegangen ist, dessen Beziehung mit einer Frau öffentlich geworden war, und vieles mehr, wovon man wenig mitbekommt, wenn man außen steht und im Wesentlichen nur über überregionale Medien mit Informationen aus der katholischen Kirche versorgt wird.

Was Menschen in aller Welt teilweise unter Einsatz ihres Lebens aus ihrem Glauben heraus gegen Armut, mangelnde Bildung, Krankheit, Verfolgung und für Versöhnung leisten nicht zu vergessen.


Und was ist mit deinem Geld, den Kirchensteuern?

Während ich durchaus kritisch sehe, ob ein Staat überhaupt für eine Religionsgemeinschaft Steuern eintreiben sollte – ich könnte mir auch vorstellen, einen "Mitgliedsbeitrag" abhängig von meinem Einkommen zu zahlen, ähnlich einer Gewerkschaft - ist das erst einmal derzeit Stand der Dinge. Der Rückgang der Kirchenmitglieder und Steuereinnahmen ist unaufhörlich und dramatisch. Großstädte, die früher dutzende eigenständige Gemeinden samt Pfarrern hatten, werden zu einzelnen Pfarramtsbezirken mit einem Haupt- und zwei, drei Nebenpfarrern zusammengelegt. Die Gottesdienste werden immer weiter ausgedünnt und Menschen müssen immer weiter laufen oder fahren, um daran teilnehmen zu können, auf dem Land teilweise viele Kilometer.

Das mag in Bayern noch nicht ganz die Brisanz wie beispielsweise in NRW erreicht haben, die Entwicklung geht aber in die gleiche Richtung. Und die Finanzausstattung der Dekanate und Pfarreien ist von allen Ausgaben der Kirche vermutlich am Direktesten an die Zahl der Kirchenzugehörigen gekoppelt. Ich möchte aber nicht jedesmal nach Nürnberg fahren müssen, um in die Kirche zu gehen. Ich möchte, dass es eine Pfarrei in der Nähe gibt, wo Kinder, Jugendliche, Familien und Senioren zusammenkommen können. Wo ein Organist bezahlt werden kann, der die Messe begleitet. Wo im Winter geheizt ist. Und so weiter.

Krankenhäuser, Kindergärten, Pflegestationen und andere Einrichtungen kirchlicher Träger werden zu großen Teilen aus allgemeinen Steuern bezahlt, und ihre Zukunft hängt vermutlich weit mehr von allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen ab als von meinen Kirchensteuern. Aber es gibt auch andere Leistungen kirchlicher Träger, die nicht immer vom Staat mitfinanziert werden wie z. B. die Straffälligenhilfe.

Abgesehen davon beteilige ich mich nicht an Überlegungen, ob man kirchliche Träger nicht gleich ganz abschaffen sollte. Hunderttausende alleine in Deutschland, fest Angestellte plus Ehrenamtliche, leisten bei kirchlichen Trägern großartige Arbeit in allen möglichen sozialen Bereichen, aus innerer Überzeugung und geleitet von einem christlichen Menschenbild. Meist leise und ohne großes Gewese. Ich behaupte in keinster Weise, dass Nichtgläubige nicht ebenso engagiert und menschenfreundlich soziale Arbeit leisten. Aber was gut daran sein soll, existierende Strukturen und Engagement zu zerschlagen, nur weil es einzelne Punkte der Reibung gibt, konnte mir noch niemand erklären.


Und evangelisch werden?

Ich bin katholisch getauft, aufgewachsen und war immer in irgendeiner Form an katholische Gemeinden gebunden. Ich habe keine Berührungsängste zu Protestanten oder ihren Gottesdiensten (die im Großen und Ganzen, in Ablauf, Texten und Liedern sehr ähnlich bis gleich sind) und ich sehne mich danach, dass die christlichen Kirchen eines Tages wieder eine Glaubensgemeinschaft werden, auch wenn wir das nicht mehr erleben werden. Ich bin auch schon oft nach Taizé gefahren und habe die Ökumene dort genossen. Gerade bei einigen sehr "katholischen" Themen wie Marienbild oder Zölibat stehe ich vermutlich sogar vielen Protestanten näher als vielen Katholiken.

Und dennoch bin ich in der katholischen Kirche zuhause. Ich kenne mich kaum aus, was die Vielfalt der protestantischen Kirchen angeht (vermutlich stünden mir da die Lutheraner noch am nächsten). Dafür liebe ich die Globalität der katholischen Kirche. Egal ob in Duisburg, Fürth, Turin oder, sagen wir mal, Phat Diem, Vietnam, ich kann überall in die Kirche gehen und bin automatisch Teil der Gemeinde und gewissermaßen glaubensmäßig zuhause. Ich finde das großartig.

Dass die katholische Kirche meist stärkere Bilder und Rituale hat, die die Glaubensinhalte sicht- und fühlbar machen sollen, kommt meinem Wesen auch entgegen. Aber auch wenn ich mich in einer protestantischen Gemeinde vermutlich vom Glauben her einigermaßen wiederfinden könnte, frage ich mich: Warum sollte ich wechseln? Nur wegen der katholischen Amtskirche? Womit dann auch noch meine Stimme in der katholischen Kirche wegfällt? Nein, dazu habe ich weder genügend Contra-Katholizismus- noch Pro-Protestantismus-Argumente. Und ich mache mir auch keine Illusionen: auch unter Protestanten gibt es Erzkonservative.



Wer jetzt noch mehr lesen möchte, hier entlang:

Journelle: Nicht glauben können Sehr persönlich und differenziert, mit Erfahrungen aus dem christlich-konservativen Amerika.

Patschbella: Vaticinium ex eventu Eine Einordnung dessen, was die katholische Kirche bedeutet und tut, unter besonderer Berücksichtigung der bayerischen Provinz. Sehr lesenswert (und auch deutlich lockerer zu lesen als mein bierernstes Geschreibsel).

Antje Schrupp: Kleiner Versuch, den Atheismus zu verstehen Ein paar grundlegende Fragen an Atheisten, mit sehr vielen Antworten in den Kommentaren

Littlejamie: Die Gretchenrage Warum sie Religion ablehnt und warum ihr dabei nichts fehlt.

Das Nuf: Warum ich gerne auf die katholische Kirche verzichten würde legt dar, warum sie nicht findet, dass die Kirche öffentliche soziale Aufgaben wahrnehmen sollte.

Nachtrag 2. März: Jazzer: Wir sind nicht mehr Papst – ich war es nie über seine Gründe, aus der katholischen Kirche aus- und in die evangelische einzutreten.

*: Dass ich Gott hier durchweg grammatisch männlich verwende, ist gewissermaßen sprachliche Gewohnheit und bedeutet nicht, dass Gott nach meiner Vorstellung überhaupt ein differenziertes Geschlecht wie die meisten Menschen haben muss.

[giardino, 20:20] Permalink (10 Kommentare) 1733